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Lebewohl

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Es war windig auf den kleinen Turm des Ritterguts. Eobald legte die Hände auf die Brüstung aus Feldsteinen und blickte mit zusammengekniffenen Augen gen Himmel. Schwere Wolken überspannten den Horizont. Sie glühten in tiefem Gold und Purpur wie ein brennendes Meer, beleuchtet durch die aufgehende Sonne. Bald würden die ersten Tropfen fallen. Ein letztes Mal noch wollte er einen Blick über das Tal schweifen lassen, in dem er aufgewachsen war. Ein letztes Mal den Duft des Regens auf den Weiden riechen, bevor er ihnen für immer den Rücken zukehrte.
Entferntes Klingen drang aus der Dorfschmiede zu ihm herauf. Eo genoss die grauen Morgen hier mehr als alles andere. Sonne gab es überall, doch die grauen Nebelschwaden, die träge durch das Flusstal zogen, hatten eine einzigartige Schönheit an sich die man nirgendwo sonst finden konnte. Er entdeckte eine kleine Schafherde auf der anderen Seite des Dorfes, auf dem morgendlichen Weg zu ihrer Weide. Wahrscheinlich waren es Kunos Tiere. Niemand außer Schmied Isenbart war je früher auf den Beinen als Kuno.
Eobald kannte jeden Bauer im Dorf, und jeden Pächter auf dem Lehen der Familie von Thauern, doch er würde hier nicht bleiben.
„Leb wohl, schönes Tal. Und pass mir gut auf meinen Bruder auf," ermahnte er den Wind wehmütig. Verträumt strich er über den rauen Stein der Brüstung.
„Leb wohl, und fall mir ja nicht aus einander."
Er verharrte noch einen Augenblick und sog die süßliche Luft ein. Dann wandte er sich um und stieg hinab.

Unten im Hof wartete sein Bruder auf ihn, während ein Knappe die letzten Vorbereitungen für Eobalds Abreise traf.
Augustin sah ihn ernst an und kam auf ihn zu. Er war etwas größer als sein jüngerer Bruder, breiter gebaut und mit hellerem Haar, doch hatte sein Gesicht nicht die gleichen, prominenten Wangenknochen, die Eobald seinen energischen Gesichtsausdruck verliehen. Augustins Züge waren nicht für Grimassen gemacht, er wirkte immer etwas besorgt oder in Gedanken. So auch jetzt.
„Du musst nicht gehen, das weißt du," sagte er, als er Eobald erreichte. Seine Stimme war ruhig, aber nicht bittend. Ein bittender Tonfall gehörte sich nicht für einen gegürteten Ritter und Erben eines Adligen.
„Ich weiß," antwortete der Jüngere selbstbewusst, beinahe schon unfreundlich. Er schenkte seinem Bruder keine Beachtung und und trat zu seinem Reitpferd, um den Inhalt der Satteltaschen noch einmal zu überprüfen.
„Hast du dich von Vater verabschiedet?"
„Ja."
„Und von Onkel Richert?"
„Ja, hab ich. Hör auf, mich wie einen kleinen Jungen zu behandeln!", Eobald drehte sich entnervt um. Augustins Art, ihn immer wie ein Kind zu behandeln, war einer der Gründe warum er Thauern verlassen wollte. Er fuhr etwas ruhiger fort. „Es ist viel passiert, während du weg warst und das Leben als Ritter genossen hast, versteh das doch endlich."
„Es tut mir Leid", entschuldigte sich sein Bruder, „Wir brauchen dich hier. Du kennst Thauern besser als ich.
„Ich weiß." Eobald blieb kalt.

Augustin war hier nicht aufgewachsen. Als Erbe des Lehens war er zu Größerem bestimmt gewesen. Als er sieben Jahre alt war, wurde er als Page an den Hof seines Lehnsherrn, des Landgrafen von Erlenberg, geschickt. Dort lehrte ihn ein Mönch die höfische Etikette und das Schreiben sowie Rechnen. Mit dem dreizehnten Jahr wurde er zum Knappen erhoben. Er begleitete den Graf zu Turnieren und Hoftagen und wurde von seinem Waffenmeister im Umgang mit Schwert und Lanze unterwiesen. Nun, sieben Jahre später war er als Ritter zu seinem Heimatort zurückgekehrt um seinen kranken Vater zu beerben.
Eobald jedoch war nie bei einem Turnier gewesen und hatte keinen Waffenmeister gehabt. Stattdessen hatte sein Onkel ihn die Zahlen und Lettern gelehrt und sein Vater ihm gezeigt, wie man ein Schwert richtig hält. Ein Ritter zu werden war teuer, zu teuer für einen zweitgeborenen Sohn des niederen Adels.
Er hatte nie verstanden, warum Augustin nicht in Thauern aufwuchs. Sollte er nicht sein eigenes Land kennen, wenn er eines Tages seine Geschicke lenken wollte? Eobald hatte jedoch schnell eingesehen, dass es keinen Zweck hatte, sich darüber aufzuregen. Bei den seltenen Anlässen, bei denen er seinen Bruder gesehen hatte, hatte er stets gewusst, dass dieser eines Tages der Herr von Thauern sein würde. Es hatte trotzdem immer unwirklich erschienen, und so weit, weit weg.
Doch schließlich war der Tag gekommen. Er war einmarschiert wie ein König. Mit Kutsche samt Gattin, Streitross und Zelter, Sporen und Schild. Selbst zwei eigene Knappen hatte er mitgebracht. Mit jenem Tag war Eobalds Leben wie er es gekannt hatte zu Ende gewesen. Er war an einen Scheidepunkt gelangt, und wie auch immer er sich entschied, es würde sein gesamtes Leben verändern.
Eobald könnte in Thauern bleiben. Er wäre mit Sicherheit ein guter Verwalter, und für immer ein Schatten an der Seite seines Bruders. Manche Leute konnten so leben. Richert, sein Onkel, hatte diesen Weg gewählt und war sehr glücklich damit. Zusammen mit seinem Bruder hatte er aus dem Dörfchen einen florierenden Handelsknoten erschaffen. Fast jeden Tag verbrachte er im Studierzimmer des Ritterguts, versunken in Geschichtschroniken, Berechnungen oder diplomatische Korrespondenzen. Trotzdem erschien er Eobald, unverheiratet und kinderlos wie er war, von Zeit zu Zeit sehr einsam.
Heirat... Das wäre Eobalds zweiter Ausweg gewesen. Einst war auch er einer Maid versprochen gewesen, bevor sie an der Grippe gestorben war.
Er hatte in letzter Zeit oft über seine mögliche Zukunft nachgedacht, doch es hatte ihn stets in seiner Entscheidung bestärkt. Er würde Thauern verlassen. Er würde sein Glück in der weiten Welt suchen und er würde ein Ritter werden, koste es was es wolle.

„Jan, wo ist mein Wetzstein?", fragte er, während er sein Gepäck überprüfte.
„Ah, wartet-... der müsste...," der Knecht kramte in einem der Beutel, „Ah, hier ist er, Herr." Jan hielt triumphierend den Stein hoch, als er ihn gefunden hatte.
„Gut, dann ist alles da," beschloss Eobald. Er griff nach seinem schweren Reisemantel aus brauner Wolle und warf ihn sich über. Dann wandte er sich zu seinem Bruder um.
„Bruder."Er sah Augustin in die Augen. Sie waren von einem hellen, wässrigen Blau, was den melancholischen Blick nur noch verstärkte. Er wusste nicht genau, was er sagen sollte, doch der Ältere kam ihm zuvor.
„Pass auf dich auf, kleiner Bruder", sagte er. Seine Stimme war ruhig und gefasst, wie immer. Er griff nach Eobalds Schulter und drückte sie. Der Hauch eines Lächelns umspielte seine Lippen. Und war das Trauer in seinen Augen? Eobald wusste es nicht. Bei diesen blassen Augen war das schwer zu sagen.
„Pass auf meinen Vater auf, und das mit Thauern, das kriegst du schon hin", antwortete er und klopfte Augustin versöhnlich auf die Schulter. So standen sie eine Weile. Dann schließlich wandte Eobald sich um und stieg auf sein Ross.
„Wo willst du eigentlich hin?", rief sein Bruder noch, während Eobald schon zum Tor trabte.
„Nach Westen! Der Rosenorden sucht immer nach neuen Männern!", antwortete er und galoppierte der ungewissen Zukunft entgegen.
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